Für Freitagabend war in Berlin eine Veranstaltung mit Judith Butler zum Thema „Queere Bündnisse und Antikriegspolitik“ angekündigt:
„Judith Butler, die diesjährige Zivilcourage-Preisträgerin des Berliner Christopher Street Day 2010, widmet sich in ihrem Vortrag der Frage, welches Profil eine queere Politik haben muss, die sich als Teil einer Politik gegen den Krieg versteht. Von dieser Frage ausgehend, behandelt die amerikanische Philosophin Aspekte einer queeren Friedenspolitik, die queer nicht als Identitätskonzept, sondern als Bündnisform zu thematisieren sucht. Welche politische Rolle spielt queere Politik in einer Welt, in der Krieg alltäglich erscheint und viele Völker einem ständigen Bedrohungszustand hoffnungslos ausgeliefert sind? Wie muss sich queere Politik angesichts der globalen Herausforderungen der zunehmenden Militarisierung und fortgesetzten Kolonialisierung neu definieren, und ist eine queere Politik denkbar, die nicht zugleich auch eine anti-rassistische Bewegung ist? Wie können wir Bündnissen gegen nationalistische Abschottungspolitik beitreten, wenn diejenigen, für die und mit denen wir kämpfen, unsere Standpunkte nicht immer teilen?
Judith Butler, Philosophin und Philologin, ist Professorin an der European Graduate School und an der University of California, Berkeley. Andreas Kraß moderiert den Abend, er ist Literaturwissenschaftler und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und arbeitet zu Queer Theory bzw. Gender Studies.“
Der tatsächlich gehaltene Vortrag behandelte dann die Frage „einer Politik gegen den Krieg“ nur am Rande und konzentrierte sich auf den Gegenstand homo- und transphobe Gewalt sowie bündnis- und rechtspolitische/-philosophische Vorschläge, dagegen vorzugehen. Das tatsächliche Vortragsthema mag vielleicht besser zu dem Zivilcourage-Preis passen. Da das angekündigte Thema dadurch aber nichts an Relevanz verloren hat sowie immer wieder mal die Diskussion aufkommt, ob queer eine Absoftung (Weichspülung) oder Radikalisierung feministischer und linker Politik bedeutet, folgt hier die Ausformulierung einiger Gedanken, die ich mir zu dem angekündigten Thema und zu Butlers diesbezüglichem Buch „Gefährdetes Leben. Politische Essays“ gemacht hatte:1
I would like to refer on three points: First on the need for coalitions and for having political aims; second on the concept of dis-identification in queer politics, especially regarding the question of peace and war; and third on the mode, in which we should criticise the imperialist war.
1st Butler focuses on the need for coalitions. I totally agree: There is no politics without coalitions. But there is another fundamental political truth: Every coalition needs political aims. And even more: Not only coalitions need political aims. I would like to claim: Queer people as part of political coalitions need political aims for there own. If I have ever understood anything regarding queer politics and queer theory in U.S. – here in Germany it was different up from the beginning – then queer politics never meant to reduce our claims to a certain consensus; didn’t mean to reduce our claims to the minimal objectives of certain coalitions. Rather queer politics means, not to request for our recognition by the patriarchal and heterosexist society.2 It means the radical theoretical and political de-construction of that patriarchal and heterosexist society.
2nd I agree with the position, that ‘queer’ should not be just another identity; the concept of dis-identification is a key concept of queer theory and queer politics. The concept of dis-identification was introduced in the 70s by Michel Pêcheux, a central figure of discourse analysis and … – a communist. He gave us an example for his understanding of ‘dis-identification’. This example was just the question of peace and war. Pêcheux referred on World War I.: As we know, the mainstream of the social-democratic parties each identified with “their” nation. They agreed with the war in the name of the national interests. Pêcheux criticised this identification. But there was as well another tendency. Its object of identification was not the war, but peace – peace in general. – And now the important point: Pêcheux criticised this contra-identification, the mere lamenting over the war, as well. This simple reversal – peace instead of war – is not enough. The alternative of peace and war was a double blind situation: It bound the left to the alternative of supporting imperialism or of mere lamenting over the war.
But there was a third attitude – beyond identification and contra-identification: What Pêcheux called ‘dis-identification’ was that third option: It was the strategic orientation, which Lenin proposed:: to transform the imperialist war into revolutionary civil war. The revolutionary de-construction of the dualistic opposition of peace and war opened the road to political agency. It opened the road to a real practice of anti-imperialism.
3rd I do not say: We should go out, buy guns and start right now to use them for our queer revolutionary struggle. But I think there is at least one thing, which we can learn from Pêcheux and Lenin: It is not enough, to be in the middle of the extremes. In her book Precarious Life Butler criticised both sides of the current war between the fundamentalist Islamic camp and the U.S. led western camp.3 I totally agree. But I totally disagree, if this criticism of both sides would be made in the name of moderation and pacifism.4
Rather I would claim: Queer politics does not mean to be a less radical enemy of patriarchal, heterosexist Islamism or Arabic nationalism. And queer politics neither means to be a less radical enemy of the patriarchal, heterosexist Western societies. And queer means neither to be with the liberal tendencies among both camps. The opposite is correct: We have to be the most radical enemies of both camps. ‘Queer’ does not mean to lament about using weapons. Queer should mean to explore, what are the most effective weapons for our fight against domination and exploitation. Queer should mean to re-actualise the Leninist way of fighting.
References:
Butler, Judith: Precarious Life. The powers of mourning and violence, Verso: London / New York, 2004 (dt. Ausgabe, in teilweise problematischer Übersetzung: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2005).
http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/LeninsPazifismusKritik.pdf (Zitatesammlung u.a. aus Lenins Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus von 1916).
Michel Pêcheux, Zu rebellieren und zu denken wagen! Ideologien, Widerstände, Klassenkampf (1978), in: kultuRRevolution H. 5, Feb. 1984, 61 – 65 (63 f.) und H. 6, Juni 1984, 63 – 66 (65 f.).
Detlef Georgia Schulze, Gefährdetes Leben – Gefährliches Recht. Vom Nutzen und Schaden poststrukturalistischer Rechts- und Politikanalysen, in: Neue Politische Literatur 2006, 203 – 213 (211-213).
- Die folgenden Überlegungen blieben aufgrund des Wechsels des Vortragsthemas in der anschließenden Diskussion unvorgetragen. Statt dessen hatte ich in der Diskussion etwas zu Butlers Berufung auf Rechte, die nicht in den Gesetzen stehen, gesagt. Mir scheint Butlers Berufung am Freitag auf ein ‚eigentliches Recht’, das es nur noch zur Entfaltung zu bringen gelte, wird vollständig von ihrer eigenen früheren – an anderen Gegenständen ausgeführten – Essentialismus-Kritik getroffen (vgl. im übrigen dort [bes. die Abschnitte „Fundamental(ist) rights und das Ende der Politik“ (S. 4), „Warum die Berufung auf Naturrecht eine autoritäre Geste ist“ (S. 5) sowie S. 6] sowie dort). Die Postulierung eines metaphysischen – vom performativen Prozeß der Rechtsetzung losgelösten – ‚eigentlichen’ Rechts ist – gemessen an de-konstruktivistischen Maßstäben – weder theoretisch besonders überzeugend noch für die von Butler beanspruchte „radikaldemokratische“ Politikkonzeption besonders nützlich, wobei auch das Konzept der „radikalen Demokratie“ genauerer Diskussion bedürfte (vgl. meine Rezension in: Neue Politische Literatur 2007, 303 – 304). [zurück]
- Cfr.: ‘Eine Politik der Toleranz und Integration einer “Minderheit” in die “Normgesellschaft” mit einer repräsentativen Politikvorstellung zeigte sich als gescheitert. Form und Orte lesbisch-schwuler Identitätspolitik waren an ihre Grenzen gestoßen. [… Daraufhin] wurden Ton und Aktionen offensiver und aggressiver. […] in Queer Theory [… geht] es weniger um Kämpfe nach Akzeptanz des “Anderen” […], als vielmehr um die Analyse und die Dekonstruktion der Herstellungsverfahren von “dem Anderen”, die Ausgrenzungspraktiken als Legitimation dienen.’ (Corinna Genschel, Fear of Queer Planet: Dimensionen lesbisch-schwuler Gesellschaftskritik, in: Das Argument, H. 216, 4/1996, 525 – 537 [528] – emphasis in original). [zurück]
- Butler 2005, 30, cfr. 123. [zurück]
- Cfr. Butler 2005: aus der ‘Gewaltspirale’ (p. 7) auszusteigen, ‘aus dem Kreislauf der Gewalt überhaupt heraus[zu]finde[n]’ (p. 60); ‘Verbesserung’ der ‘amerikanisch-arabischen Beziehungen’ (p. 30). [zurück]
Diese klassenkämpferische Guerrillakriegsmetaphorik hat Professor Butler echt nicht nötig…
Gemessen woran – „nicht nötig“? Weil sie Professorin ist? Oder weil abstrakte Anti-Gewalt-Bekundungen und symbolische Preisablehnungen ausreichen, um die Welt zu ändern? -
Na, dann bin ich mal gespannt, wie schnell das Erfolge zeigt.
Gemessen daran, dass sie als Antimilitaristin auftritt… Dann sollte sie sich weder affirmativ auf Lenin beziehen, noch die eigene Politik mit Kriegen vergleichen…
Die Preisablehnung hat mich gestern ziemlich gefreut, auch wenn ich dadurch jetzt nicht die baldige Weltrevolution erwarte… Und das Verhalten des Moderators zeigt nur überdeutlich, wie berechtigt diese Distanzierung war…
Nein, das macht sie nicht. Sie tritt als Pazifistin auf, und daran gemessen sind ihre Ausführungen konsistent. Nur bestreite ich, daß das eine realistische Strategie ist.
Sie tendiert dahin, Politik auf Ethik zu reduzieren und Interessenkonflikte durch Überzeugungsarbeit zu ersetzen. Das ist nun allerdings eher Habermas‘ Diskursethtik als De-Konstruktivismus.
Sie berief sich am Freitag auf Rechte, die wir angeblich haben (obwohl sie nicht in den Gesetzen stehen) und die wir nur ausüben (exercise) müßten, und de-thematisiert damit den Schritt der Eroberung und Durchsetzung dieser Rechte (vgl. dort, S. 4 – 6 und 32 – 34): den Schritt der Rechtsetzung und die politischen Kämpfe, die ihm vorausliegen1.
Wenn sich Butler nicht theoretisch, sondern politisch äußert, dann tendiert sie dahin, in moderne Theorietraditionen zurückzufallen. Dies scheint allen recht zu geben, die schon immer bezeifelt haben, daß es eine de-konstruktivistische Politik geben kann.
Meine Gegenthese lautet: Die einzige de-konstruktivistische Politik, die es geben kann, ist revolutionäre.2, 3
PS.: Zur Begriffsbildung:
Für den Antimilitarismus ist nicht jede Gewaltanwendung militaristisch. Deshalb kann der Antimilitarismus Militarismus kritisieren, ohne pazifistisch zu sein. – So zumindest die eingebürgerte Begrifflichkeit:
PPS.:
Ja, allemal. – Nur frage ich, wie groß denn der Unterschied zwischen der Kritisierenden und den Kritisierten wirklich ist (vgl. FN 1).
Fußnoten [Formatierung funktioniert gerade nicht]: